
Abb. 1
Das liebevoll illustrierte Kinderbuch „Fremde Gäste am Schilfsee“ ist ein von Hans Riedel erdachtes und illustriertes Tiermärchen, das von Annelies Jaschonek und Peter Moosdorf gestaltet und von Karl Nietzsche überarbeitet wurde. Das aus den 1950er Jahren stammende und nur noch antiquarisch erhältliche Buch erzählt eine Flüchtlingsgeschichte im Tierreich und erschien in der DDR im Verlag Karl Nietzsche, Niederwiesa. Ein Mäusevater wird Zeuge der Ankunft einer geflüchteten Froschfamilie am See. Die Tiere, die an diesem See wohnen bringt dies in Aufruhr. Ängste und Ressentiments gegen die Fremden werden geschürt, bis es zu einem versöhnlichen Ende kommt. Neben dem brandaktuellen und erzieherisch wichtigen Thema bietet das Buch liebevoll und meisterhaft gezeichnete Tierbilder von Hans Riedel. Datiert wird das Buch von Antiquariaten oft auf das Jahr 1957, was vermutlich nicht ganz richtig ist, da es bereits 1956 in Fünf-Jahres-Listen der Deutschen Literatur auftaucht (Vgl. Buchhändler-Vereinigung 1956).
Ein Buch gegen Fremdenhass und Vorurteile
Allabendlich holt Mäusevater Pieps mit zwei Eimern Wasser am See für das Bad. Eines Tages aber schreckt er auf, als ein Floß den Schilfsee erreicht, auf dem eine Froschfamilie kauert. Der Froschvater Quak steuert das Floß ans Ufer, während die weinende Mutter Quakeline die kleinen Kinder umsorgt. Aus sicherer Entfernung beobachtet der Mäuserich dieses ungeheure Treiben. Fremde am Schilfsee! Der Gedanke lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er fürchtet sich vor diesen andersartigen wesen mit den großen, hervorstechenden Augen und den breiten Mäulern. Sie sehen nicht aus wie die Tiere in der Region. Schnell rennt er nach Hause, warnt die Mäusefrau und die Maulwurffamilie von Maulwurf Multe. Die Sorge vor den schrecklichen Fremden ist groß. Mit Unterstützung des Dorfschulzen Kniep, einem Hirschkäfer wird die Nachbarschaft zusammengetrommelt. Die Beschreibung der tatsächlichen Ereignisse ist längst einer Verbreitung des Schreckens vor den entsetzlich anzusehenden Eindringlingen gewichen.

Abb. 2: Pieps holt Wasser (Illustration: Hans Riedel)
Hirschkäfer Kniep ist es schließlich, der sich unter der offenbar gebotenen Vorsicht zu den Neuankömmlingen wagt. Vom Froschmann lässt er sich die Geschichte erzählen, die er anschließend bei den Dorfbewohnern wiedergibt. Dort hat sich die Situation zunehmend hochgeschaukelt. Ausgerechnet die Elster krächzt bereits von Diebstahl, was ihr die anderen Tiere aber immerhin sofort vorhalten. Das ganze Dorf ist mittlerweile in Aufruhr und auf den Beinen. Der Dorfschulze beschwichtigt das Treiben der anderen Tiere und berichtet von seiner Begegnung. Wie sich herausstellt, sind die Fremden eine kleine Froschfamilie mit Vater, Mutter und Kindern. In ihrer Heimat, am Rande eines kleinen Teiches wurden sie vertrieben, weil böse Kinder mit Steinen nach ihnen geworfen hatten. Ihr Überleben war ein reines Glück. So wurden sie zu Flüchtigen, die alles verloren haben und sich verzweifelt durch die Fremde kämpfen mussten.
Mehrere Tage zogen die Frösche an das Ende eines kleinen Baches und noch einmal zwei Tage durch das dichte Schilf. In der Hoffnung auf eine neue Bleibe möchten sie die anderen Tiere um Asyl und Zuflucht bitten. Mit diesem Wissen ist die Angst im Dorf sofort verflogen. Natürlich will man den armen Flüchtlingen helfen. Die erschöpften Frösche, die noch immer am Teichufer warten, werden sofort mit Hilfsangeboten wir Notunterkünften, Lebensmitteln und Hilfsversprechen überhäuft. Mit der Erlaubnis der Anwohner, ein Haus zu bauen, möchte der Froschvater auch sogleich am nächsten Tag den Bau beginnen. Natürlich kommen alle Tiere zur Hilfe und feiern gemeinsam das Richtfest. Nur die Elster traut den Fremden weiterhin nicht und zieht sich zu ihrer Cousine zurück. Als der Frosch dann auch noch das Maulwurfkind vor dem Ertrinken rettet, wird spontan das Dorf nach ihm benannt: Quakensee. So sind am Ende alle Tiere freunde und leben noch lange friedvoll miteinander.

Abb. 3: Der Hausbau (Illustration: Hans Riedel)
Illustriert von Hans Riedel
Die Illustrationen von Hans Riedel sind sehr naturalistisch und entsprechen sowohl dem Geschmack der Tiermärchen jener Zeit als auch exzellentem handwerklichem Können. Die Figuren sind nicht nur naturgetreu angelegte anthropomorphe Tierfiguren, sondern auch in Anatomie und Proportionen einwandfreie Darstellungen, deren Qualität sich auch in der Darstellungskonsistenz innerhalb der Bildergeschichte widerspiegelt (Vgl. Abb. 2). Die Zeichnungen erinnern an Fritz Baumgarten, Ernst Kreidolf oder auch die Lurchi-Zeichner Lorenz Pinder und Heinz Schubel. Besonders das fantasievolle Hausbaubild (Vgl. Abb. 3) erinnert an die wuseligen Wimmelbilder der Lurchi-Hefte. Dabei kann Riedel mit seinem Zeichenstil Emotionen und Dramatik ebenso transportieren wie Lebendigkeit und Hektik. Dafür sorgt einerseits die starke Bildkomposition, andererseits aber auch die Farbenkraft und -vielfalt. Von der Idylle taucht die Bildergeschichte in eine Hektik und ein Durcheinander, wie es auch den Emotionen der Tiere gut entspricht, um am Ende in der Schlussszene mit Quak, Kniep und Multe wieder in die Ruhe zurückzukehren. Der Tumult hat ein Ende, die Frösche sind integriert. Die emotionale Bandbreite sieht man exemplarisch auch auf den Bildern des Buchumschlags mit Familie Frosch auf dem Floß (Abb. 1) und in der Szene, in welcher die Mäuse bei den Maulwürfen hereinstürmen. Kein Wunder, dass das Buch, an dem verlagsseitig ferner auch Annelies Jaschonek und Peter Moosdorf mitwirkten, heute als absoluter Klassiker der DDR angesehen werden muss; wenngleich ein zu Unrecht leider unbekannter Klassiker.
Historische Einordnung
Über den Autor ist nur wenig Biografisches bekannt. Hans Riedel trat in den 1930er Jahren als Autor und Illustrator von mindestens zwei Kinder- und Jugendbüchern in Erscheinung. Im Dritten Reich wurden seine Werke „Jungengeschichten“ und „Die Wölfe vom Haselberg“ jedoch verboten. Ob er mit dem gleichnamigen Liederdichter (1889–1971) identisch ist, ist heute nicht mehr zu ermitteln. Nach dem Krieg kehrte Riedel in seinen schreibenden und zeichnerischen Beruf zurück und verarbeitete mit den „fremden Gästen“ womöglich auch die eigenen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse. Durch Kriegswirren und Heimatvertreibung gab es Ende der 1940er Jahre große Flüchtlingsströme, Armut und Leid in ganz Europa. Die Froschfamilie steht sinnbildlich für die Vertriebenen, denen unverschuldet schweres Leid angetan wurde. In der neuen Heimat stoßen sie auf Vorurteile, Angst, Fremdenfeindlichkeit und Aktionismus. Erst durch das Gespräch der Tiere lernen diese, dass auch die Frösche sehr friedliebende Charaktere sind, die nicht aus Aggression sondern aus der Not in das Seehabitat eindringen. Barmherzigkeit und Freundlichkeit siegen am Ende. Werte wie Gemeinsamkeit, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft wenden sich ins Gute, als der Neuankömmling sogar ein Leben retten kann.
Rund 70 Jahre nach seinem Erscheinen ist die Thematik des Bilderbuches so aktuell wie eh und je. Fremdenfeindlichkeit und -hass sind leider in Deutschland und Europa wieder salonfähig geworden und noch immer gibt es in der Welt Kriege und Fluchtbewegungen. Jeder neidet dem anderen das Wenige, das dieser an Freiheit hat, selbst wenn die eigene Freiheit eine viel größere ist, und wähnt sich überwiegend zu Unrecht durch das Fremde bedroht. Die wichtige Botschaft dieses Buches, das im breiten Märchenbuchsortiment des mittlerweile nicht mehr aktiven Verlages leicht zu übersehen ist, gerät dabei leicht in Vergessenheit. Daher ist es gut, dass Bücher wie dieses immer wieder entdeckt werden.
Kritik an den Geschlechterrollen
Kritik äußert die Bloggerin Enni Lila auf dem „Feminismus im Pott“-Blog, die zurecht anmerkt, „dass die Migrationserzählung hier bedauerlicherweise eine patriachal orientierte ist“ (Lila 2015). Das Kinderbuch transportiert tatsächlich Familienbilder und Geschlechterrollen seiner Zeit, der 1950er Jahre. Die handelnden und zur Lösung beitragenden Figuren sind überwiegend männlich. Der Froschvater ist derjenige, der die Familie in Sicherheit bringt und mit den Seebewohner:innen verhandelt. Am Ende wird er zum Held und Retter des Maulwurfkindes. Den Frauen fallen passive Rollen zu wie der Froschmutter, die nicht einmal im Schlussbild ihren Platz hat, oder sogar eine Antagonistinnenrolle wie der Frau Elster. Unter heutigen Maßgaben ist das eine antiquierte und wertekonservative Figurenkonstellation. Das macht die Geschichte jedoch nicht per se schlecht. Das Kinderbuch ist nicht dazu gemacht, Geschlechterrollen zu propagieren, sondern Gegebenheiten abzubilden, die sich zu jener Zeit massenhaft tatsächlich so zugetragen haben. Die Bloggerin hadert mit sich, ob das Buch zu empfehlen oder abzulehnen sei („Es ist zum Haare raufen, zum Fauchen und ich ärgere mich ungemein darüber, dass dieses Kinderbuch einen so kritischen Knick innehat!„), trifft dann aber die folgerichtige Entscheidung, dass die transportierte Migrationsthematik wichtiger ist als ein modernes Rollenbild, das im Übrigen auch gar nicht im Vordergrund steht. Wer Wert auf emanzipatorische Botschaften und Vorbilder für Mädchen und Jungen gleichermaßen legt, wird seine Erziehung nicht auf einzelne Bücher beschränken. Und wem das Schicksal der Froschmutter besonders am Herzen liegt, der darf im Anschluss an das Vorlesen ihre Rolle gerne diskutieren. Positiv hervorheben sollte man im Übrigen das Bild, welches die Mäusemutter abgibt, die zunächst die Ängste der anderen kritisch hinterfragt und sich schließlich nur vom Momentum mitreißen lässt. Sie ist neben dem Hirschkäfer die einzige Vernunftbegabte. Es gibt also durchaus auch ein positives Frauenbild in Riedels Tiermärchen.
Sammlerwert
Mit dem Ende des Verlags Karl Nitzsche nach dem Niedergang der DDR werden auch die Märchenbücher nicht mehr aufgelegt. Das Buch „Fremde Gäste am Schilfsee“ bekommt man heute noch antiquarisch oder über Auktionsplattformen. Die Preise, die auch dem Sammlerwert entsprechen liegen meist zwischen 30 und 50 Euro. Es lohnt sich, nach Bücherkonvoluten des Verlags Ausschau zu halten, besonders da man dort nicht nur sparen, sondern neben diesem Buch gelegentlich auch das von Riedel illustrierte „Ali Baba und die 40 Räuber“ finden kann.
Quellen und weiterführende Literatur
- Eigene Sammlung und Recherchen
- Hans Riedel: “Fremde Gäste am Schilfsee” (um 1955), Verlag Karl Nitzsche, 30 S.
- Enni Lila: „Wer schnell hilft, hilft doppelt“, Blogbeitrag auf Feminismus im Pott vom 27.06.2015, abgerufen am 22.01.2022
- Buchhändler-Vereinigung: „Deutsche Bibliographie: Fünfjahres-Verzeichnis. Bücher und Karten“ (1956)
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