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Forschung & Sammlung

Vergessener Brauch: Eingemauerte Salamander-Schuhe

2018 wurde in Fernbreitenbach, einem malerischen Dorf im Thüringer Wartburgkreis, eine unfassbare Entdeckung gemacht: Bei Renovierungsarbeiten an einem alten Fachwerkhaus stießen Handwerker auf einen verborgenen Hohlraum hinter einer Wand. In diesem Hohlraum lag eingemauert ein Mädchenschuh eines etwa drei Jahre alten Kindes, hergestellt 1915 von der Firma J. Sigle & Cie unter der Marke Salamander. Der Fund war nicht nur ein Kuriosum, sondern auch eine kleine Sensation, die es ermöglicht tiefer in die Geschichte und Traditionen des Ortes und der Region einzutauchen. Beim Einmauern getragener Schuhe handelt es sich um einen heute vergessenen, alten Volksbrauch, der bis ins 19. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte, in ganz Europa belegt ist und Glück und Segen ins Haus bringen sollte.


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Es ist ein Fund, wie man ihn sich innerhalb der ersten halben Stunde eines Horrorfilms vorstellen mag: ein einzelner abgetragener Kinderschuh. Alte Gemäuer bieten bei Umbauten oft einige Überraschungen ihrer meist schon dahingeschiedenen Vorbesitzer. Mit derartigen Fundstücken rechnet heute niemand mehr, zumal der Brauch des Versteckens oder Einmauerns von Schuhen heute so gar nicht mehr bekannt ist. Im echten Leben kommen nach solchen Funden aber keine rachsüchtigen Geister, sondern bestenfalls interessierte Archäologen und Historiker. Diese bringen jedoch vor allem Neugier und keine Erklärungen mit.

Schloss Liedberg, Fundort eingemauerter Schuhe

Man findet sie in Kirchen, Kathedralen und Schlössern, aber auch in Wohnhäusern: eingemauerte Schuhe, oft von Kindern, meist Einzelexemplare – aber gelegentlich auch paarweise oder als Sammlung von Schuhen ganzer Familien. Was sie wirklich bezwecken sollten, weiß heute niemand mehr ganz genau. Es ist ein bisschen, als habe die Märchenprinzessin Aschenputtel beim hurtigen Aufbruch nach dem Tanz ihren Schuh zurückgelassen. 2010 fand man in Schloss Liedberg in Korschenbroich, Nordrhein-Westfalen, bei Sanierungen des Mauerwerks nahe des Kamins und des Sitznischenfensters im gotischen Turm eingemauerte Schuhe: drei Frauen-, drei Männer- und zwei Kinderschuhe. Bis zu 300 Jahre alt soll das märchenhaft verwunschene Schuhwerk gewesen sein, also etwa aus dem Jahr 1700 stammen (Vgl. Dohmen 2010).

Es ist ein eigentümlicher Brauch, der da in ganz Deutschland und Europa betrieben wurde. Auch, weil es offenbar rein gar keine zeitgenössischen schriftlichen Quellen zu Schuhen als „Hausbeigaben“ gibt. Auch die Forschung zu diesen „Depotfunden“ steckt trotz erster Funde in den späten 1950er Jahren noch weitgehend in den Kinderschuhen, obwohl es mittlerweile über 1000 Funde alleine von eingemauertem Schuhwerk in ganz Europa gibt. Die Bauten gehen bis auf das 14. Jahrhundert zurück, wobei der Volksbrauch seinen Höhepunkt im 17. bis 19. Jahrhundert gehabt zu haben scheint. Gut möglich jedoch, dass aus dieser Zeit einfach die meiste Bausubstanz erhalten geblieben ist. Von Volks- und Aberglauben, Bauopfern sowie Schutz- und und Abwehrzaubern gegen böse Geister kann man in der mutmaßenden Fachpresse lesen. Darauf würden auch die häufigen Fundstellen nahe Kaminen, Dächern und in Hohlräumen über Fenstern und Türen hindeuten – nahe bei Öffnungen oder Mauerabschlüssen. Der derzeit älteste Fund geht auf das Chorgestühl der Winchester Kathedrale in Großbritannien zurück. Meist sind es Kinderschuhe, in der Erfassungsstatistik gefolgt von Frauenschuhen und Männerschuhen. Etliche Schuhe sind aber auch nicht zuordenbar.

Ob es sich tatsächlich um Bauopfer wie das durchaus in abergläubischen Zeiten nicht unübliche Einmauern von Tieren wie Katzen oder Hunden zur Abwehr böser Geister (Vgl. Lederer 2019) handelte, ist schlichtweg unbekannt. Für einen verlorengegangenen Ritus könnte sprechen, dass andere Bauriten wie das Richtfest ebenfalls bis ins 14. Jahrhundert zurückdatieren. Mindestens darf man aber wohl annehmen, dass die Schuhe Glück ins Haus bringen sollten. Da ist es auch kein Zufall, dass man ausgetretenes Schuhwerk verwendet hat, welches eine lange Geschichte mit der Trägerin oder dem Träger verband. Dies hatte nicht nur praktische Gründe, dass gutes Schuhwerk bis zur maschinellen Produktion etwas kostete und man es deshalb trug, solange es ging. Man ging wohl davon aus, dass in den Schuhen die „Seele“ ihrer Träger in Form des individuellen Fußabdrucks haust.

Alte Schuhe in altem Gemäuer

Der in der Zeit des Schuhmauerns geschriebene Aufsatz „Der Schuh im Volksglauben“ von 1894 wusste zwar ebenfalls nichts zu einem Bau-Ritus des Einmauerns zu berichten, sieht im Objekt des Schuhs in mehrerlei Hinsicht aber auch ein Fruchtbarkeitssymbol für Haus und Hof, was bestehenden Forschungsannahmen zu Depotfunden einen weiteren Aspekt hinzufügen würde. Die Füße von Arbeitern, Mägden, Wanderern oder Schwangeren gaben durch das Überschreiten von Schwellen, das Aufstehen aus dem Bett oder das passieren von Feldern Aufschluss über kommendes Glück und Schicksal. Fußwaschungen finden sich bis heute in der katholischen Kirche als Segnung. Die Ausläufer all dessen erfahren wir heute noch im Nikolausbrauch, geputzte Schuhe herauszustellen, damit diese mit Gaben (früher mit Äpfeln und Nüssen – ihrerseits auch Symbole für Fruchtbarkeit) gefüllt werden. Interessant mag in diesem Zusammenhang sein, dass die Schuhe früher ans Fenster oder den Kamin gestellt wurden, also eben jene baulichen Schwach- und Eintrittspunkte für spukhafte Wesen. Hintergrund ist, dass Sankt Nikolaus nach altem Glauben wie der Weihnachtsmann, mit dem er die gleiche historischen und mythologischen Wurzeln teilt, durch die Luft fuhr (Vgl. Sarkori 1894, siehe auch: „Wilde Jagd“ im Sagenkreis um Nikolaus, Wotan und Frau Holle). Man könnte vor dieser Parallele also durchaus auch Ableitungen hinsichtlich einer gewünschten Segnung des Hauses mit Fruchtbarkeit anstellen, zumal für die Abwehr böser Geister bereits tierische Bauopfer bekannt sind.

Nicht nur auf Schloss Liedberg fand man in den letzten Jahren versteckte Schuhe im Mauerwerk, sondern an vielen Fundstellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Keine 5 Kilometer entfernt in der 2009 durch Brandstiftung niedergebrannten Gaststätte „Zum Anker“ entdeckte man 2013 im Rahmen der Restaurierungsarbeiten des historischen Hauses aus dem 16. Jahrhundert zwei Paar Kinderschuhe, die in eine Nische eingemauert waren. Es war der dritte Fund in der Region (Vgl. NGZ 2016). Andere Funde gab es 2009 bei der Sanierung von Burg Engelsdorf in Düren-Aldenhoven (Köllner Stadtanzeiger 2016), 2019 in einem Wohnhaus in Herzogenaurach, sowie einige Jahre zuvor im Türmersturm (Vgl. Lederer 2019), oder in der alten Büdnerei in Vierow in Mecklenburg-Vorpommern (Vgl. Ziebarth 2019). Im Wasserschloss Glatt in Baden-Württemberg wurden sogar über hundert Einzelschuhe bei Bodenarbeiten entdeckt (Vgl. ebenda). Sogar in Muttenz im ältesten noch aufrecht stehende profane Gebäude des Basellands in der Schweiz wurde man mit einem Kinderschuh aus der Mitte des 19. Jahrhunderts fündig (Vgl. Marti 2018).

Eine ähnliche Überraschung erlebte 2018 auch Lutz Börner aus Fernbreitenbach im thüringischen Wartburgkreis. In einem Hohlraum entdeckten Handwerker beim Ausbau einer alten Treppe einen hochwertig gearbeiteten ledernen Mädchenschuh für ein Kind von etwa 3 Jahren. Das von seinem Großvater Emil Börner erbaute Fachwerkhaus ist bisher der einzige Fundort eingemauerter Schuhe in Thüringen. Der 1896 geborene Bauherr muss das Haus wohl zwischen 1915 und 1925 erbaut haben. Die frühesten Bauakten, die heute noch erhalten sind, beziehen sich auf einen Erweiterungsbau im Jahr 1926, die Schuhe stammen jedoch aus dem Jahr 1915. Im Volksbrauch war das Schuhe einmauern in dieser Zeit bereits kurz davor in Vergessenheit zu geraten. Häufig belegt ist es lediglich bis ins 19. Jahrhundert hinein. Sowohl regional als auch zeithistorisch fiel Börners Großvater also etwas aus der Reihe. Dafür ist allerdings dank Datierung und Firmeneindruck der Hersteller des Schuhwerks bestens bekannt. Es handelt sich nämlich um die Firma „J. Sigle & Cie“, die seit 1903 Salamander-Schuhe herstellte und 1930 zur Salamander AG umfirmierte. Der Hinweis auf die „Salamander Schuhfabriken“ findet sich ebenfalls in dem Schuh, ist jedoch stärker ausgeblichen als die anderen Kennzeichnungen (siehe hier).

J Sigle & Cie Briefkopf um 1925

Wie der Sigle-Schuh aus Kornwestheim nach Thüringen kam, ist nicht bekannt. Denkbar ist ein Kauf der Schuhe in Baden-Württemberg oder bei einem der von Sigle belieferten Schuhhändler. Die Salamander Vertriebsgesellschaft hatte um 1915 bereits ein Netzwerk von über 800 Alleinverkaufsstellen in ganz Deutschland aufgebaut. Dass der Salamander-Schuh nicht nur gern und viel getragen worden war, sondern auch seinen Weg in die Wand des thüringischen Hauses fand, ist ein Glücksfall, denn er öffnet die Augen der modernen Salamander-Forschung für alte Volksbräuche und belegt zugleich, dass die Salamander Schuhfabrik in Kornwestheim entgegen weit verbreiteter medialer Mythenerzählungen bereits lange vor den ersten Lurchi-Heften Kinderschuhe herstellte und vertrieb.


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Quellen und weiterführende Literatur

  • Eigene Sammlung und Recherchen
  • Paul Sartori: „Der Schuh im Volksglauben“ (1894), in: Verein für Volkskunde (Hrsg): „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“, 4. Jahrgang, Heft 01/1894, (Berlin), S. 41-54
  • Kristin Dohmen: „Eingemauerte Schuhe im gotischen Turm von Schloss Liedberg“ (2010), in: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg): „Denkmalpflege im Rheinland“, 27. Jahrgang Nr. 1 – 1. Vierteljahr 2010, S 1-13
  • Redaktion des KSA: „Brauchtum im Rheinland: Das Geheimnis der eingemauerten Schuhe“, in: „Kölner Stadtanzeiger“ vom 08.12.2016, Onlineartikel, abgerufen am 08.03.2024
  • Redaktion der NGZ: „Gaststätte ‚Zum Anker‘ trotzt gleich zweimal dem Feuer“, in: „Neuß-Grevenbroicher Zeitung“ vom 30.06.2016, Onlineartikel, abgerufen am 08.03.2024
  • Reto Marti: „Auf wackligen Beinen – Ein Kinderschuh des 19. Jahrhunderts aus Muttenz“ (2018), in: „Archäologie Baselland“, Onlineartikel, abgerufen am 08.03.2024
  • Anne Ziebarth: „Alter Brauch: Das Geheimnis der alten Kinderschuhe“, in: „Ostseezeitung“, Online-Artikel vom 20.03.2019, abgerufen am 08.03.2024
  • Irene Lederer: „Bauopfer? Rätsel um Schuhfunde in Herzogenaurach“, in: „Nordbayern.de“, Online-Artikel vom 24.05.2019, abgerufen am 07.03.2024
  • Jensen Zlotowicz: „Der vergessene Brauch“, in: „Thüringer Allgemeine“ Regionalausgaben vom 17.11.2028, sowie „Ostthüringer Zeitung“ Regionalausgaben vom 20.11.2028, „Thüringische Landeszeitung“ vom 20.11.2028
  • Foto Schloss Liedberg: Chris06, CC0, via Wikimedia Commons

Lange schallt’s im Walde noch:
Salamander lebe hoch!


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